“Sozialleistungsrechner”: Künstliche Intelligenz im Kampf gegen Armut und Ausgrenzung – ein Gespräch mit dem Projektteam
Mit dem Sozialleistungsrechner geht ein Projekt an den Start, das es bisher in der Sozialwirtschaft so nicht gegeben hat: Die Gründerinnen Carolin Holat und Anna Friederike Steiff sowie das Team des DRK-Landesverbandes Baden-Württemberg und Kreisverbandes Mannheim entwickeln gemeinsam eine mehrsprachige digitale Plattform, welche mit Hilfe von künstlicher Intelligenz den Zugang zu Sozialleistungen und damit zur Teilhabe in der Gesellschaft vereinfachen soll. So sollen Armut und Ausgrenzung in Deutschland effizienter und zielgerichteter bekämpft werden. Im Gespräch erläutern die Teammitglieder das Konzept und die weiteren Entwicklungsschritte.
Wie ist die Idee zum Sozialleistungsrechner entstanden?
Carolin Holat:
"Das waren die persönlichen Erfahrungen vieler Freunde und Bekannter. Diese berichteten, mit ihrem Beratungsanliegen von Amt zu Amt weiterverwiesen worden zu sein, weil sich niemand zuständig fühlte. Es entstand der Eindruck, dass es sich dabei um Ermessensentscheidungen der Ämter handelt. Jedoch ist die Anspruchsgrundlage klar und einfach von Seiten der politischen Entscheidungsträger definiert worden. Daraus entstand die Idee, den komplizierten Prozess der Leistungsermittlung und der Antragstellung durch Digitalisierung zu vereinfachen, sodass jede und jeder die ihr und ihm zustehenden Leistungen beantragen kann."
Wer arbeitet an dem Projekt "Sozialleistungsrechner"?
Markus Kaufmann:
"Partner für dieses Projekt sind der DRK-Landesverband Baden-Württemberg e.V., der DRK-Kreisverband Mannheim e.V. und die Mach`sEinfach GmbH (i. G.), geführt von Anna Friederike Steiff (Kommunikation/ Business Development) und Carolin Holat (Softwareentwicklung)."
Anna Friederike Steiff:
"Wir, bei der Mach`s Einfach GmbH (i. G.), bieten Lösungen, um sehr komplexe Anträge/Formulare und die dazugehörigen Prozesse - aus technischer und kommunikativer Sicht nutzerfreundlich zu digitalisieren. Dies gilt sowohl für den externen als auch den internen Gebrauch. Unsere Vision ist es, mit Hilfe von intelligenter Software Barrieren abzubauen und effizienteres Arbeiten zu ermöglichen. Wir wollen komplexe Prozesse, einfach digitalisieren, ganz unter dem Motto: Warum schwierig, wenn es auch einfach geht?"
Carolin Holat:
"Das Projekt wird unterstützt von dem Institut für angewandte Managementforschung an der Hochschule Mannheim, dem SocEntBW e.V. - Netzwerk für verantwortungsbewusstes Unternehmertum (Social Entrepreneurship) und Social Startups in Baden-Württemberg, dem Social Impact Lab Stuttgart und der Hochschule Mannheim."
Markus Kaufmann:
"Auch wurde der Sozialleistungsrechner im März 2021 im Rahmen des Civic Innovation Platform-Wettbewerbs des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales als einer der Gewinner ausgewählt und wird auch in der Zukunft in diesem Kontext gefördert."
Wie seid ihr als Projektteam zusammengekommen?
Lukas Findeisen:
"Durch eine Mischung aus Zufall und Vertrauen. Es besteht eine enge Kooperation des DRK mit dem Social Impact Lab in Stuttgart, weil wir als Landesverband aktiv mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten wollen. Claudio Rathlef, Leiter des Hubs in Stuttgart, hat einen Kontakt zu Carolin Holat hergestellt. Parallel wurden wir von LEAD AI, einem Beratungs- und Softwareunternehmen in Berlin, zu dem LeadingAI Lab eingeladen - da hat alles zusammengepasst. Was noch fehlte war der Kontakt mit der Zielgruppe vor Ort, dafür ist dann Sonja Wawszczak aus dem Kreisverband Mannheim dazugestoßen."
Markus Kaufmann:
"Die Zusammenarbeit mit dem DRK auf verschiedenen Ebenen lag auch der Thematik geschuldet Nahe. Eine Kernkompetenz des DRK ist die Beratung von Menschen in Not und dazu gehören Sozialleistungen. Auf der Basis einer Studie im Rahmen einer Abschlussarbeit wurde das Thema inhaltlich innerhalb des DRK aufgearbeitet und eine Situationsanalyse erstellt. Da hier die Notwendigkeit festgestellt wurde, sowie das Potenzial der Entwicklung von viel effizienteren Arbeitsabläufen in der Beratung, wurde entschieden das Projekt "Sozialleistungsrechner" umzusetzen."
Was genau macht eure Lösung?
Sofia von Ristok:
"Der "Sozialleistungsrechner" erleichtert den Zugang zu Hilfe durch eine digitale Lösung, welche zum einen Leistungsansprüche ermittelt und zum anderen den jeweiligen Antrag erstellt. Die Antragserstellung erfolgt in der jeweiligen Muttersprache und am Ende entsteht ein druckfertiger PDF-Antrag auf Deutsch. Durch künstliche Intelligenz werden die eingegebenen Informationen in die komplexen Formulare übertragen. Auch Veränderungen der Rechtslage und Verwaltungspraxis können damit abgebildet werden."
Sonja Wawszczak:
"Wir vereinfachen damit massiv einen komplizierten Prozess für den Antragsteller und für die jeweilige Behörde, indem wir ihn digitalisieren. So soll der Sozialleistungsrechner dazu beitragen, dass benachteiligte oder unterstützungsbedürftige Menschen die Hilfen und Sozialleistungen erhalten, die sie brauchen und ihnen zustehen. Darüber hinaus soll die neue IT-Lösung die Beratungssituationen der DRK-Einrichtungen und Dienste vor Ort bei den sozio-ökonomischen Fragen entlasten. Das ermöglicht dann mehr Zeit für die Unterstützung in persönlichen Fragen und Problemen."
Wie empfindet ihr die Zusammenarbeit zwischen einer großen Organisation und einem Start-up?
Sofia von Ristok:
"Für das DRK ist es eine spannende und eher neue Situation. Die Zusammenarbeit mit dem Start-up ist sehr agil und man sieht wahnsinnig schnell Ergebnisse. Das Projektteam hat schnell einen gemeinsamen Arbeitsmodus gefunden. Durch die Expertise und den individuellen Blick, den alle einbringen - sowohl technisch als auch inhaltlich und verbandlich - ergänzen wir uns hervorragend. Uns als DRK tut es gut, neue Arbeitsformen zu erproben und zugleich bewährte Arbeitsweisen aufrechtzuerhalten sowie unsere Verbandsstrukturen zu berücksichtigen, um am Ende ein Produkt zu haben, das über alle Ebenen hinweg Akzeptanz und Nutzung erfährt."
Lukas Findeisen:
"Wir haben als Gesamtteam am KI-Lab von LEAD AI teilgenommen, wo neben fachlichem Input zu Machine Learning und Prototyp-Entwicklung auch Design Thinking Workshops dabei waren. Das hat uns auch geholfen als Team immer weiter zusammenwachsen. Die Zusammensetzung als kleines, agiles Pionier-Team ermöglicht sowohl eine sehr schöne Zusammenarbeit als auch ein schnelles Vorankommen des Projekts."
Sonja Wawszczak:
"Die Zusammenarbeit bündelt unsere Stärken: Durch die Perspektive des Kreisverband und der Praxis in der Sozialen Arbeit haben wir die User im Fokus und können den Sozialleistungsrechner so entwickeln, dass er den größtmöglichen Mehrwert bietet. Durch den DRK-Landesverband entsteht sowohl Reichweite, um das Tool möglichst vielen Usern bekannt zu machen, aber auch, um Beratungsstellen und Sozialberaterinnen und Sozialberater einzubinden. Auch können wir so versuchen, das Thema von Leistungsverschleierung politisch anzugehen. Die Arbeitsweise des Start-ups Mach´sEinfach GmbH (i. Gr.) ermöglicht agiles Arbeiten, also einfach mal loslegen, auf Bedarfe reagieren und ausprobieren, ohne lange Absprachen dafür zu benötigen."
Welche nächsten Schritte plant ihr?
Carolin Holat:
"Wir arbeiten mit Vollgas an der Fertigstellung des Prototypen: In der ersten Version sollen der Auskunftsfragebogen und der Wohngeldantrag online gehen. SvR: Für die Fertigstellung des Prototypen sind wir dabei, möglichst viele Daten zu sammeln, mit welchen wir unsere KI "intelligent machen" können, sie also befähigen, erfahrungsbasiert individuell und korrekt auf offene Fragen zu antworten. Wenn wir genügend Daten haben und diese erfolgreich technisch implementiert sind, kann der Prototyp unseres Sozialleistungsrechners bereits in die erste Testphase gehen."
Lukas Findeisen:
"Langfristig soll der Sozialleistungsrechner in einer größeren App eingebunden werden, die Gamification-Ansätze beinhaltet und dafür sorgt, dass die Menschen es noch breitflächiger nutzen und weiterempfehlen."
Kann man den "Sozialleistungsrechner" als Pionier-Projekt verstehen?
Anna Friederike Steiff:
"Absolut! Das Projekt ist ein erster Anwendungsfall für künstliche Intelligenz für den Zugang zu Sozialleistungen; darauf soll dann weiter aufgebaut werden. Das Deutsche Rote Kreuz und die Mach´sEinfach GmbH (i. G.) leisten hier Pionierarbeit für die Digitalisierung im sozialen Sektor. Ziel ist es, den Sozialleistungsrechner als verbreitetes digitales Tool zu etablieren und damit flächendeckend Menschen Zugang zu Leistungen zu ermöglichen, die ihnen rechtlich zustehen. Darüber hinaus bietet das System noch weitere Einsatzmöglichkeiten. Es bleibt spannend!"
Interview-Partner:
Markus Kaufmann, Leitung Abt. Sozialarbeit, DRK - Landesverband Baden- Württemberg e.V.
Sofia von Ristok, Referentin, DRK - Landesverband Baden-Württemberg e.V.
Lukas Findeisen, Referent für Digitalisierung und soziale Innovation, DRK - Landesverband Baden-Württemberg e.V.
Sonja Wawszczak, Sozialpädagogische Leitung, DRK - Kreisverband Mannheim e.V.
Carolin Holat (Softwareentwicklung), Mach`sEinfach GmbH (i. G.).
Anna Friederike Steiff (Kommunikation/PR/Marketing, Business Development), Mach`sEinfach GmbH (i. G.).
Für alle Rotkreuzlerinnen und Rotkreuzler, die soziale Innovationen im DRK BW weiterbringen möchten, ist das Digital-Leadership-Programm der richtige Anlaufpunkt! Interdisziplinäre Teams engagieren sich dort zu verschiedensten Themen, um Potenziale für uns als DRK auszumachen und Innovationen auf die Straße zu bringen. Im Rahmen des Programmes gibt es die Möglichkeit, Digitalkompetenzen auszutauschen, Ideen zu diskutieren und sich verbandsweit zu vernetzen. Es ist offen für alle DRKlerinnen und DRKler. Teilnehmende müssen von ihrem Kreisverband nominiert werden. Bei Fragen und Interesse einfach an innovation(at)drk-bw.de schreiben.